Scheu verloren? Zum Verhalten der Munster-Wölfe. Von Sebastian Koerner

Scheu verloren? Zum Verhalten der Munster-Wölfe. Von Sebastian Koerner

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15.06.2015

Sebastian Koerner iSebastian kleinst Biologe mit dem Schwerpunkt Verhaltensökologie. Seit 2005 dokumentiert er die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland mit der Filmkamera. Bisher hat er an den Rendezvousplätzen von zehn Wolfsrudeln sowie im Territoriumszentrum von einem Wolfspaar gefilmt. Einschließlich des Munsteraner Rudels hat er das Verhalten an den Rendezvousplätzen von fünf Rudeln auf aktiven Truppenübungsplätzen gefilmt (drei Rudel TÜP Oberlausitz, eins TÜP Altengrabow, eins TÜP Munster). Bei zwei zweiwöchigen Aufenthalten im Yellowstone-Nationalpark hat er das Verhalten der dortigen Wölfe beobachtet. Er ist Autor der Broschüre „Ökologie und Verhalten des Wolfes – Wolfshinweise erkennen und dokumentieren“, die 2013 von der Landesjägerschaft Niedersachsen herausgegeben wurde.

Auf dem TÜP Munster führte er in Abstimmung mit der Bundeswehr und der Bundesforst von Juli bis November 2012 fünf mehrtägige Filmansitze, von Juli bis Oktober 2014 zwei mehrtägige Filmansitze und von Juni bis Oktober 2014 drei mehrtägige Filmversuche durch. 2012 und 2013 gelangen Filmaufnahmen, 2014 nicht.

Die Ereignisse in Munster

Jeweils im Herbst 2012 und 2013 berichteten die Bundesförster auf dem Truppenübungsplatz (TÜP) Munster von Wölfen mit geringer Scheu. Den öffentlich viel beachteten Auftakt machten Anfang September 2012 die drei gut vier Monate alten Welpen des ersten Wurfes, als sie einem Soldaten auf seinem nächtlichen Marsch in geringem Abstand über eine 2 km lange Schießbahn folgten. Seit Anfang 2015 kam es sowohl in der direkten Umgebung des TÜP Munster als auch z.B. bei Mölln und in Südwestniedersachsen und sogar in den Niederlanden zu Nahbegegnungen mit einzelnen Wölfen. Schnell kursierte in den Medien die Vermutung, dass „alle“ Wölfe zunehmend ihre Scheu verlieren würden. Genetische Untersuchungen bestätigten, dass es sich bei den Nahbegegnungen außerhalb der Region Munster um Jungwölfe handelte, die kurz zuvor vom Munsteraner Rudel abgewandert waren.

Alle mir aus dem Internet oder auch von Bundesforstmitarbeitern bekannten Fotos oder Filmaufnahmen von Nahbegegnungen aus dem Jahr 2015 zeigen körperlich annähernd ausgewachsene Welpen aus 2014, die die Nähe von Fahrzeugen mit Menschen darin nicht scheuen oder sich dem Fahrzeug sogar interessiert bzw. spielerisch neugierig nähern. Auf keinem Video ist Aggressivität oder eine auf ein potentielles Beuteobjekt gerichtete Fokussierung zu erkennen. Auf drei Filmaufnahmen nähert sich jeweils ein Welpe einem Fahrzeug und stellt sich „erwartungsvoll“ kurz neben die Fahrer- bzw. Beifahrertür.

Auf den Filmsequenzen ist auch das Verhalten der beiden Munsteraner Elternwölfe gegenüber stehenden Fahrzeugen mit Personen darin dokumentiert (alle Aufnahmen sind aus Fahrzeugen heraus gemacht worden). Auf der ersten Sequenz vom 07.01.2015 markieren sie in 60 bis 100m Entfernung intensiv an einer Wegkreuzung, ehe sie, das eine oder andere Mal zurückschauend, in entgegengesetzter Richtung forttrotten, während sich die Welpen noch längere Zeit an der Kreuzung aufhalten und interessiert in Richtung Fahrzeug schauen.

Die zweite Sequenz ist von sehr schlechter Qualität und zeigt, wie eine Gruppe von fünf Wölfen auf einen Trecker zu läuft, von dem aus die Szene gefilmt wurde, und dann im Bogen an ihm vorbei läuft. Zuerst haben zwei Wölfe, die ich für die Elterntiere halte (leicht angehobene Ruten, helle Fähe, dunklerer rötlicher Rüde), den Trecker zielstrebig und mit größerem Abstand umlaufen. Die drei folgenden Tiere, offensichtlich Welpen, halten weniger Distanz zum Trecker, bleiben mehrmals stehen und schauen „neugierig“ in Richtung Trecker. Ein Welpe kehrt sogar um und läuft ein paar Schritte zum Trecker zurück. Als die Elternwölfe merken, dass die Welpen nicht zügig folgen, halten auch sie an und schauen aus größerer Entfernung in Richtung Trecker und Welpen.

Bei zwei nicht per Video oder Foto dokumentierten Begegnungen haben jeweils mehrere Wölfe im Munsteraner Territorium eine Joggerin auf einem Hochsitz „belagert“ bzw. sich einer Spaziergängerin mit zwei Hunden auf etwa 15m genähert und sich nicht durch Schreien vertrieben lassen. In einem dritten Fall näherten sich mehrere Wölfe Spaziergängern mit einem Hund. Ein besonders großer Wolf hat sich auf den Weg gestellt, der Hund-Mensch-Gruppe den Rückzugsweg sozusagen „abgeschnitten“ und sie angeknurrt.

Die Munster-Welpen der Jahrgänge 2012 und 2013 haben ihre Neigung, sich Menschen aktiv zu nähern, im Laufe der Entwicklung zum Altwolf offensichtlich abgelegt. So ist z.B. der Rüde des Cuxhavener Wolfspaares, der aus Munster stammt, nicht durch Nahbegegnungen mit Menschen auffällig geworden.

Der Wolf – ein Angsthase? Verhaltensbiologische Grundlagen

Ein freilebendes Wolfsrudel ist in der Regel eine Kleinfamilie, in der die Elterntiere mit ihren diesjährigen, etwa Anfang Mai geborenen Welpen sowie einigen Jährlingen aus dem Wurf vom Vorjahr zusammenleben. In einem Alter von zehn Monaten bis zwei Jahren wandern die meisten Jungwölfe aus dem elterlichen Territorium ab und gründen mit einem Partner aus einem anderen Rudel eine eigene Familie.

Generell verläuft die individuelle Entwicklung bei Wölfen vom unbedarften, neugierigen Welpen, der Umweltbestandteile zunächst schlecht wahrnehmen und einordnen kann, hin zum vorsichtigen, zielstrebig seine Jungen versorgenden und ungewisse Situationen meidenden Altwolf. Wahrscheinlich ist der vorsichtige Charakter der Altwölfe darauf zurückzuführen, dass sie als relativ kleine Top-Prädatoren alleine oder zu zweit viel größere und sehr wehrhafte Beutetiere angreifen, und sie deshalb vorher in jedem einzelnen Fall abschätzen müssen, ob ein Angriff nicht zu riskant ist. So können Wölfe eingefangen werden, indem man das Waldstück, in dem sie schlafen, mit einer Leine, an der Stoffstreifen hängen „einzäunt“ (Lappjagd). Die Wölfe trauen sich nicht, die Lappenlinie zu überwinden.

Die auffällige, ausgangs des Winters 2014/2015 beobachtete Vertrautheit gegenüber Fahrzeugen und Menschen betrifft – wie auch in den Vorjahren – Welpen und manchmal Jährlinge des Munster-Rudels (Habituierung). Die Annäherung von körperlich ausgewachsenen Welpen im Winter und Frühling 2015 und das meist kurze Abwarten an Fahrzeugen deuten darauf hin, dass diesen Tieren gelegentlich Futter zugeworfen worden sein könnte. Das wäre als eine eher gering ausgeprägte Form von Futterkonditionierung anzusehen. Das nicht dokumentierte Anknurren der Hund-Mensch-Gruppe wurde wahrscheinlich von einem im Vergleich zu seinen Eltern und Jährlingsgeschwistern größeren, knapp zweijährigen Jungwolf ausgeführt (kurzes Anzeichen von Aggression gegenüber einem Hund).

Die Munsteraner Elternwölfe zeigen eine geringere Fluchtdistanz und ein weniger ausgeprägtes Vermeidungsverhalten gegenüber Menschen als die Elternwölfe von neun anderen Rudeln in Deutschland. Es gibt jedoch derzeit keine Anzeichen dafür, dass sie so wie einige ihrer Welpen völlig distanzlos gegenüber Fahrzeugen und Menschen sind oder sich sogar für sie interessieren und sich ihnen gezielt nähern.

Sind die Munsterwölfe gefährlich?

Bei den geschilderten Begegnungen mit körperlich ausgewachsenen Welpen war gegenüber den Menschen weder aggressives noch jagdliches Verhalten zu erkennen, auch kein aufdringliches Futterbetteln. Deshalb sind diese Nahbegegnungen als ungefährlich einzuschätzen. Allerdings können sich durch die Distanzlosigkeit in Verbindung mit anderen Umständen gefährliche Situationen entwickeln, z.B. wenn ein Hund mitgeführt wird. Der berichtete Fall, da ein wahrscheinlich knapp zweijähriger Munster-Jungwolf eine Hund-Mensch-Gruppe aus geringer Distanz angeknurrt hat, gehört in diese Kategorie, auch wenn die Aggression wahrscheinlich dem Hund galt.

Die geringere Fluchtdistanz der Elternwölfe des Munster-Rudels gegenüber Menschen ist meines Erachtens eine Anpassung an die häufige und lang anhaltende Anwesenheit von Menschen im Welpenaufzuchtbereich ihres Territoriums (s.u.). Die Elternwölfe zeigen aber anscheinend kein aktives Interesse an Menschen und/oder Fahrzeugen und sie halten einen deutlich größeren Abstand als ihre aktuellen, noch in ihrem Territorium anwesenden Nachkommen.

Die Munsterwölfe verhalten sich anders – aber warum?

Nach meinen eigenen Erfahrungen unterscheidet sich der Welpenaufzuchtbereich des Rudels auf dem TÜP Munster von denen anderer mir bekannter Rudel in Deutschland. Während meiner Filmansitze bzw. schon bei der Anfahrt traf ich in Munster viel öfter auf Menschen bzw. auf Fahrzeuge wie Panzer und Geländewagen als bei anderen Rudeln. Und während solche Begegnungen andernorts schnell vorübergingen, standen in Munster häufig Fahrzeugkolonnen längere Zeit an einem Ort. Insofern könnte der Grund für das vertraute Verhalten der Herbst- und Winterwelpen des Munster-Rudels darin liegen, dass diese Tiere die Anwesenheit des Menschen als etwas Normales, Alltägliches kennenlernen und nicht als etwas Besonderes und damit beunruhigend Ungewöhnliches, so wie es wahrscheinlich die Wölfe der anderen Rudel in Deutschland wahrnehmen.

Im Gegensatz zu den Jungtieren von z.B. Bären und Luchsen verbringen Wolfswelpen viel Zeit allein (d.h. ohne Eltern oder ältere Geschwister) und erkunden in dieser Zeit die Umgebung ihres Rendezvousplatzes. Auf dem TÜP Munster Nord treffen sie dabei relativ häufig auf stehende Fahrzeuge. Es ist nicht auszuschließen, dass den noch unbedarft und tapsig wirkenden Tieren dabei gelegentlich Futter zugeworfen wurde. Dies widerspricht eindeutig den Vorschriften auf dem Übungsplatz. Im Gegensatz zu 2013 und 2012 zeigten die Welpen 2014 ihre Vertrautheit gegenüber Menschen deutlich häufiger, auch außerhalb des Truppenübungsplatzes, einige sogar nach ihrer Abwanderung in andere Regionen.

Auf den erwähnten Filmsequenzen 1 und 2 zwei stellt sich jeweils ein 2014er Munsterwelpe kurz neben die Fahrertür bzw. Beifahrertür eines stehenden Autos, so dass Grund zur Vermutung besteht, dass den Tieren in einer ähnlichen Situation schon früher einmal Nahrung zugeworfen wurde. Vielleicht also waren die Munster-Welpen der Jahrgänge 2012 und 2013 „nur“ an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt (habituiert) und sie haben ihr vertrautes Verhalten als Altwölfe abgelegt, während die 2014er Welpen zumindest gelegentlich gefüttert worden sind und somit eine beginnende Futterkonditionierung bei ihnen vermutet werden kann.

Dreistes, massiv Futter einforderndes Verhalten, wie es entsteht, wenn ein Jungwolf regelmäßig angefüttert wird, wurde aber auch bei den Munster-Welpen aus dem Jahr 2014 noch nicht beobachtet. Wenn ein solcher stark futterkonditionierter Jungwolf auf Menschen trifft, kann er aufdringlich und aggressiv werden (siehe McNay).

Man ignoriert sich: ein Wolfsjährling in Yellowstone hat kaum ein Age auf seinen menschlichen Nachbarn. Foto Peter Dettling, www.TerraMagica.ca.

Man ignoriert sich: Ein Wolfsjährling in Yellowstone hat kaum ein Auge auf seinen menschlichen Nachbarn. Foto Peter Dettling, www.TerraMagica.ca.

Die Gesamtsituation der Wölfe auf dem TÜP Munster Nord ist derjenigen im Yellowstone-Nationalpark in den USA recht ähnlich. Dort suchen Jahr für Jahr Tausende Naturtouristen die Nähe der Wildtiere und vor allem der Wölfe. So lernen die Wölfe die Menschen als selbstverständlichen Lebensraumbestandteil kennen. Die Altwölfe sehen die Menschen nicht als Beute, sondern als uninteressant, sie halten etwa 50 bis 100 m Abstand und ignorieren die Menschen. Die neugierigen Jungwölfe allerdings versuchen manchmal, die „merkwürdigen Zweibeiner“ zu erkunden und nähern sich ihnen bis auf wenige Meter. Und obwohl das im Nationalpark streng verboten ist, füttern einige Touristen gelegentlich solche Tiere. Habituierte und vor allem am Beginn einer Futterkonditionierung stehende Jungwölfe werden von der Nationalparkverwaltung als potenziell gefährlich angesehen und vergrämt. Wenn dies nicht gelingt, werden sie getötet.

Fazit

Die Wölfe in Niedersachsen und Deutschland als Gesamtheit verlieren nicht „ihre Scheu.“ Die in jüngster Zeit beobachteten Wölfe mit geringer oder fehlender Scheu waren nach bisherigen Erkenntnissen ausschließlich Tiere aus dem Munster-Rudel, wahrscheinlich nur die heranwachsenden Welpen von 2014, vielleicht noch einige Jährlinge. Das Verhalten wird wahrscheinlich durch eine Gewöhnung an die Anwesenheit von Menschen (Habituierung) an den sommerlichen und herbstlichen Rendezvousplätzen verursacht und wurde 2014 wohlmöglich durch gelegentliches Füttern (Konditionierung) verstärkt. Der Mangel an Scheu der Welpen 2012 und 2013 hat sich offensichtlich im Verlaufe ihrer Entwicklung zu Altwölfen gelegt.

Die Munster-Welpen des Jahres 2014 werden ihre Vertrautheit gegenüber Menschen im Verlauf ihrer individuellen Entwicklung wahrscheinlich ablegen. Das muss durch ein besonders dichtes Monitoring überwacht werden. Diese positive Entwicklung würde allerdings durch Füttern (positive Konditionierung) gefährdet. Gelingt es zukünftig auf dem TÜP Munster, jedwedes Füttern der Herbst- und Winterwelpen zu verhindern, werden sich diese zwar an die Anwesenheit von Menschen an ihren Rendezvousplätzen gewöhnen und sie werden eine gewisse Vertrautheit zeigen. Diese wird sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der weiteren Entwicklung zu Altwölfen wieder legen.

Die unerwünschte und unbedingt zu vermeidende Futterkonditionierung freilebender junger Wölfe anderer Rudel in Deutschland ist meines Erachtens vor überhaupt nur dort möglich, wo Menschen und Fahrzeuge häufig und längere Zeit in den Welpenaufzuchtbereichen anwesend sind und somit schon eine Habituierung gegeben ist. Das muss durch aktives Monitoring bei jedem einzelnen Rudel festgestellt werden.

Empfehlungen

Bei dem Munsteraner Rudel sind nach meiner Ansicht folgende Maßnahmen erforderlich:

  • Gründliche, wiederholte Information und Aufklärung der Bundeswehrmitarbeiter sowie der Bevölkerung, der Interessenvertreter und Entscheidungsträger der Umgebung des Truppenübungsplatzes.
  • Intensives aktives Monitoring aller Wolf-Mensch-Nahbegegnungen und Auswertung der gewonne­nen Daten.
  • Besenderung möglichst mehrerer Tiere – sowohl Elterntiere als auch Welpen – zur Beurteilung des unerwünschten Verhaltens und als Voraussetzung für eine ggf. erforderliche wieder­holte Vergrämung.