MT6 hätte nicht sterben müssen

MT6 hätte nicht sterben müssen

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27.04.2016

Es war richtig, MT6 zu eliminieren. Dennoch hätte der Tod des jungen Wolfsrüden vermieden werden können. Sein Schicksal war spätestens seit Sommer 2015 absehbar, als er mit einem Sender ausgerüstet, aber nicht vergrämt worden war.

Wölfe kommen nicht als gefährliche Tiere zur Welt, sondern sie durchlaufen einen Verhaltensprozess, an dessen Ende sie in aller Regel scheu sind und den Menschen aus dem Wege gehen. So steht es in allen Merkblättern, und so ist es – wie gesagt: in aller Regel. Aber keine Regel ohne Ausnahme.

Warum Wildtiere stets so etwas wie eine „Grundscheu“ gegenüber Menschen entwickeln, ist mir noch nicht überzeugend erklärt worden. Vielleicht ist es unsere aufrechte Gestalt, die Wildtieren verdächtig vorkommt. Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sich dieser Argwohn über die vielen Jahrtausende, die homo sapiens gemeinsam mit Wildtieren, aber überwiegend als Jäger verbracht hat, genetisch verfestigt.

Gefährliche Nähe. So weit darf es nicht kommen (Foto Uwe Anders).

Gefährliche Nähe. So weit darf es nicht kommen (Foto Uwe Anders).

Zurück zur Ausnahme. Sie besteht darin, dass ein Wolf sich an die Nähe zu Menschen gewöhnt. Er lernt, dass Menschen nicht gefährlich sind. Deshalb werden diese noch nicht Teil seines Beutespektrums, sondern sie spielen in seinem Umfeld eine neutrale, indifferente Rolle. Sie sind nicht weiter interessant, nicht bedrohlich. Vor diesen Zweibeinern muss man nicht weglaufen, sondern man kann auf kurze Distanz an ihnen vorbeigehen. Man behält sie im Auge, damit hat sich’s.

In unserem Land mit seiner hohen menschlichen Besiedlungsdichte sind viele Wölfe zwangsläufig bis zu einem gewissen Grade habituiert, d.h. an Menschen gewöhnt. Das liegt einfach daran, dass sie ständig Menschen begegnen. Habituiert sein, das ist an sich noch nichts Besonderes.

Kritisch wird es, wenn die Schwelle von der Habituierung zur positiven Konditionierung überschritten wird: wenn der Wolf erfährt, dass die Nähe zum Menschen Vorteile bringt. In den meisten, wenn nicht allen Fällen spielt Nahrung dabei die entscheidende Rolle. Eine andere Vorteilsquelle kann man sich schlecht vorstellen. Man spricht dabei von Futterkonditionierung. Die meisten höher entwickelten Wirbeltiere – Hirsche, Wildschweine, Delphine – lassen sich durch Futter konditionieren. Auch Bären, Wölfe, Löwen – aber das sind von Haus aus Beutegreifer, nicht Fluchttiere. Und deshalb ist da Vorsicht geboten.

Futterkonditionierte Wölfe sind noch nicht per se gefährlich. Aber Futterkonditionierung ist der entscheidende erste Schritt dazu, dass es überhaupt zu einem gefährlichen Kontakt zwischen Wolf und Mensch kommt. Ich sage ausdrücklich nicht „Angriff,“ denn solch ein Kontakt, auch ein blutiger, ist oft gar nicht dem Predationsverhalten zuzuordnen (der Wolf will gar nicht Beute machen), sondern eher einem Missverständnis: Der Wolf verbindet einen Menschen mit Nahrung (ein Wurstbrot in der Tasche oder in der Hand) und greift zu, das Resultat ist eine Bissverletzung. Mark E. McNay, der 81 aggressive Begegnungen von Wölfen mit Menschen untersucht hat, beschreibt das sehr anschaulich.

Habituierten bzw. futterkonditionierten Wölfen etc. kann man durch Vergrämung (negative Konditionierung) Distanz zu Menschen beibringen: Sie müssen unangenehme, schmerzhafte Erfahrungen mit Menschen machen. Das klingt leichter als es ist. Jens Karlsson hat darauf hingewiesen, dass Vergrämung bei Wölfen in etwa drei von vier Fällen nicht gelingt! Vergrämung muss so erfolgen, dass der Wolf die schlechte Erfahrung (z.B. den schmerzhaften Beschuss mit Gummigeschossen) unmittelbar mit Menschen in Verbindung bringt (und nicht mit einem KFZ, aus dem geschossen wird). Vergrämung muss wiederholt erfolgen, und sie muss nachhaltig sein, d. h. sie muss dauerhaft wirken, nicht nur ein paar Tage. Wenn das alles nicht gelingt und der Wolf sein Verhalten nicht ändert, muss er eliminiert werden (an den umständlichen Ausdruck „letal entnommen“ – sprich getötet werden – kann und will ich mich nicht gewöhnen).

Vor einer Vergrämung muss das fragliche Tier gefangen und mit einem Sender ausgerüstet werden. Denn ohne Sender kann man es nicht finden. Das macht das ganze Vorhaben zusätzlich kompliziert, aber es ist notwendig. Im Fall von MT6 und seiner Schwester hatte man viel Glück, aber wir werden es erleben, dass sich manche Wölfe nicht fangen lassen. In einer solchen Situation verschieben sich die Entscheidungsoptionen hin zum finalen Eingriff.

Wenn es zur finalen Entscheidung kommt, hört man regelmäßig den Einwand: „Aber er ist doch gar nicht aggressiv!“ Als in Bayern der Bär JJ1 geschossen wurde, war dies der häufigste Vorwurf von Seiten der Bärenfreunde. Dazu gibt es nur eine Antwort: Wenn ein Wolf (oder Bär, etc.) sich aggressiv verhalten hat, ist man bereits einen Schritt hinter den erforderlichen Maßnahmen her, also zu spät dran. Vergrämung soll verhindern, dass es zu einer Gefährdung von Menschen kommt. Vergrämung ist Vorsorge, nicht Bestrafung für Fehlverhalten.

Stoff für langwierige Diskussionen sind auch die Kriterien, auf Grund derer man erkennen bzw. entscheiden kann, in welchem Stadium der Habituierung / Konditionierung / Gefährlichkeit sich ein Wolf befindet. Viele wünschen sich dazu einen Katalog, quasi ein Rezeptbuch, nach dem sie sich richten können. So verständlich dieser Wunsch ist – Vorsicht ist geboten. Tierisches Verhalten lässt sich nur sehr schwer in Buchstaben festmachen. In Schweden gilt, dass ein Wolf als habituiert verdächtigt wird, wenn er auf eine Distanz von weniger als 100 m nicht flüchtet. In Kanada sind es nur 30 m. Ich erwarte von einem Wolf, dass er kehrt macht und das Weite sucht, wenn er mich wahrnimmt, egal auf welche Entfernung. Wenn er sich mir nähert, obwohl er mich erkannt hat, würde ich das als Anzeichen von Habituierung deuten. Und käme er mir mit erwartungsvollem Gesichtsausdruck noch näher, sagen wir auf Steinwurfweite, dann hätte ich den Verdacht von Futterkonditionierung. Konkreter will ich nicht werden. Die Einschätzung solcher Verhaltensweisen ist Sache von erfahrenen Fachleuten, und sie kann nur auf Grund von mehrfachen Beobachtungen ein und desselben Tieres erfolgen.

Was also ist schief gelaufen im Falle MT6? Warum könnte er noch leben?

Man hätte unmittelbar nach der erfolgreichen Besenderung mit der Vergrämung dieses Tieres, besser noch des gesamten Munsterrudels beginnen sollen. Die beiden besenderten Jungwölfe hätte man als „Judaswölfe“ nutzen können, die das Vergrämungsteam zum Rudel führen. Ich glaube, dass sich jeder schmerzhafte Treffer mit einem Gummigeschoss im Rudel „herumgesprochen“ hätte – schließlich haben wir es mit außerordentlich sozial lebenden, hoch entwickelten, intelligenten Tieren zu tun.

Als zweite Option hätte man nach der fehlgeschlagenen Vergrämung durch Jens Karlsson unverzüglich mit eigenem Personal versuchen sollen, MT6 zu vergrämen.

Der Teil „Vergrämung“, der zwischen der Diagnose „verhaltensauffällig“ und der finalen Entscheidung „Entnahme“ liegen sollte, ist im Management dieses Prozesses kaum vorgekommen.

Ulrich Wotschikowsky