Disput um Zahlen

Disput um Zahlen

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Lars Dettmann erhebt Einwände gegen das Interview, das der Deutsche Jagdschutzverband mit Ulrich Wotschikowsky geführt hat und das im Wesentlichen eine Zusammenfassung des Artikels „Wie viel Wolf verträgt das Land?“ in Wolfsite ist.

Dettmann: Mich interessiert, wie aus den seinerzeit für den „günstigen Erhaltungszustand“ nötigen gut 30 Rudeln im Managementplan von Promberger & Hofer (1994) heute 333 Rudel werden konnten. Die FFH-Richtlinie galt damals wie heute.

Wolfsite: Vor zwanzig (!) Jahren, als Promberger & Hofer den ersten Managementplan für Wölfe erarbeiteten, gab es in der FFH-Richtlinie nur eine juristische Definition (in Art. 1 e und i) des günstigen Erhaltungszustandes, mit der man aber im Management nicht operieren konnte. Im Auftrag der EU-Kommission empfahlen Linnell et al. (2008) – also vierzehn Jahre später! – die Rote-Liste-Kriterien der IUCN als Grundlage für die Einschätzung des günstigen Erhaltungszustands zu verwenden. Daraus leitet sich die Zahl von 1.000 geschlechtsreifen Tieren ab. Außerdem sind dabei die Eignung des Lebensraums, die Größe des Gebiets und noch ein paar andere Dinge zu berücksichtigen. Alle anderen Empfehlungen beruhen weder auf rechtlich relevanten, noch auf wissenschaftlich begründeten Zahlen.

Ich erinnere mich, dass vor zwanzig Jahren unter Wissenschaftlern mehrere verschiedene Vorstellungen über Mindestpopulationsgrößen von Großraubtieren im Umlauf waren – mal fünfzig, mal fünfhundert, mal über tausend. Dabei kommt es darauf an, welche Einflussfaktoren man berücksichtigt und welche Konsequenzen man in Kauf nimmt. Der Bezug zum Begriff der „minimalen überlebensfähigen Population“ (minimum viable population, MVP) ist in Linnell et al. (2008) im Detail erörtert. Auf jeden Fall ist eine MVP kleiner als eine in günstigem Erhaltungszustand.

Dettmann: Die heute geltenden Kriterien der IUCN geben die Forderung nach 1.000 adulten Tieren unter den gegebenen Umständen ebenfalls nicht her. Bleibt allein die seinerzeit von der LCIE völlig willkürlich gesetzte „Populationsgrenze“ an der Weichsel und der inzwischen wirklich verkrampfte Versuch, das darauf aufgebaute Märchen von der „weitgehend isolierten“ Wolfspopulation in Westpolen und Deutschland irgendwie am Leben zu halten. Spätestens seit der dokumentierten Reise des Rüden „Alan“ ist jedem klar, dass es zwischen dem Osten Deutschlands und dem westlichen Rand der Kernpopulation keine unüberwindbaren Hindernisse gibt, die einen genetischen Austausch zwischen jener Kernpopulation und den sich etablierenden Rudeln am äußersten Rand des sich stetig gen Westen erweiternden Verbreitungsgebietes verhindern könnten.

Wolfsite Die 1.000 geschlechtsreifen (nicht: adulten) Tiere sind wohl unbestritten. Die Frage dreht sich darum, ob die Population isoliert ist. Die genetischen Daten belegen in der Tat die Herkunft der deutsch-westpolnischen Wölfe von der baltischen Population und damit die Austauschmöglichkeit mit dieser. Die telemetrischen Daten von „Alan“ zeigen dies auch zumindest für dieses einzelne Tier. In den Verbreitungskarten ist aber auch eine gewisse Lücke zwischen dem westpolnischen und dem ostpolnischen Wolfsvorkommen erkennbar.

Dettmann: Beim Blick auf die Monitoring-Daten aus Polen empfinde ich die im aktuellen Wolfsmanagement-Plan für Brandenburg eingearbeitete Karte des WWF, mit der die große Distanz zwischen den Wolfsvorkommen im Osten und im Westen Polens unterstrichen werden soll, als echte Beleidigung. Die zur gleichen Zeit angeschlagenen schrägen Töne, mit denen Expertinnen vor der Gefahr von Inzucht warnten, waren Anlass genug, den Stand der genetischen Untersuchungen von Kot- und Gewebeproben zu erfragen, welche im Land Brandenburg eingesammelt worden waren. Die Reaktionen auf die entsprechende Anfrage der CDU-Fraktion im Landtag waren bezeichnend. Es ist Herrn Dr. Nowak hoch anzurechnen, dass er im Zuge der dann erst anlaufenden Untersuchungen jener Proben auch gleich den Inzuchtkoeffizienten ermittelt hat. Seither ist dieses Gerede von einer Gefährdung durch Inzucht zum Glück verstummt.

Wolfsite: Dass sowohl Wolfsfreunde als auch Wolfsgegner zuweilen voreingenommen argumentieren, müssen wir hinnehmen. Derzeitiger Stand der Forschung ist jedenfalls, dass die deutsch-westpolnische Population weitgehend getrennt ist von den Vorkommen in Ostpolen, dass aber genügend Tiere diese Lücke überwinden können, so dass die derzeitige deutsch-westpolnische Population nicht von Inzucht bedroht ist.

Dettmann: Bleibt die Frage, wie sich die These einer eigenständigen und weitgehend isolierten Wolfspopulation westlich der Weichsel ohne großen Gesichtsverlust für ihre Anhänger ins Reich der Fabeln verbannen lässt. Eigentlich hätten dazu die Aussagen von Prof. Dr. Okarma auf der Wolfstagung des DJV in Berlin ausreichen müssen. Sie sind selbst Mitstreiter der LCIE und sie kennen die Einschränkungen, welche im entsprechenden LCIE-Papier bezüglich der zum Teil eher willkürlichen Festlegungen von Populationsgrenzen zwischen Wolfsvorkommen formuliert wurden. Warum postulieren Sie dennoch, es gäbe eine „westpolnisch/deutsche“ Wolfspopulation? Die bislang in Polen und Deutschland publizierten genetischen Untersuchungen zeigen doch deutlich, dass wir es bei uns mit einem sich wieder westwärts ausbreitenden Wolfsvorkommen zu tun haben, dessen Ursprung und Quelle die Wolfsvorkommen im Baltikum und Nordosten Polens sind. Würden Sie angesichts von Rudelterritorien jeweils am westlichen und östlichen Ufer der Weichsel von Distanz und mangelndem genetischen Austausch reden? Sicher nicht!

Die Large Carnivore Initiative for Europe (LCIE) unterscheidet in Europa (ohne Russland, Weißrussland und Ukraine) zehn Wolfspopulationen (P = Population). Gestrichelt ist die Trennlinie zwischen einzelnen Populationen. Quelle: Kaczensky et al. 2013.

Die Large Carnivore Initiative for Europe (LCIE) unterscheidet in Europa (ohne Russland, Weißrussland und Ukraine) zehn Wolfspopulationen (P = Population). Gestrichelt ist die Trennlinie zwischen einzelnen Populationen. Quelle: Kaczensky et al. 2013.

Wolfsite: Sehen wir uns die Verbreitung der Wölfe in Europa an, wie sie auf Grund einer Erhebung der LCIE (Kaczensky et al. 2013) dargestellt wird: Es gibt nur wenige völlig isolierte Populationen, z. B. die nordwest-spanisch-portugiesische und die in der Sierra Morena. Alle anderen hängen inzwischen mehr oder weniger zusammen. Selbst die italienische Population hat mit einem Rudel (Vater Slowene, Mutter Italienerin) den Anschluss an die dinarische Population geschafft. Die Alpenpopulation (französische Seealpen, dazu Einzeltiere in der Schweiz) gilt als separate Population, hat aber Verbindung zur italienischen, aus der sie hervorgegangen ist.

Stellen wir uns vor, der Wolfsschutz in Europa ist weiterhin so erfolgreich wie in den letzten zwanzig Jahren und die Populationen wachsen mehr und mehr zusammen. Dann gibt es eine an vielen Stellen unterbrochene, aber insgesamt kontinuierliche Verbreitung vom Baltikum in die Pyrenäen, an die Südspitze Italiens und Griechenlands. Diese Population als Ganzes ist dann sicher in einem supergünstigen Erhaltungszustand. Das wäre ein großer Erfolg für den Wolfsschutz. Sonst heißt das aber erstmal noch gar nichts.

Dettmann: Warum also im Interview mit dem DJV diese Milchmädchenrechnung mit den angeblich notwendigen 333 Rudeln auf deutscher Seite?

Wolfsite: Die Schätzung bezieht sich auf die gesamte deutsch-westpolnische Population, nicht auf die deutsche Seite. Im Übrigen gefällt mir dieses Herumreiten auf Zahlen selber nicht, aber ich möchte schon darauf hinweisen, dass diese Zahlenritte (um im Bild zu bleiben) hauptsächlich von jenen betrieben werden, die sich wünschen, in die wachsende Wolfspopulation eingreifen zu können – Stichwort „unkontrollierte Vermehrung.“ Die Frage „Wieviel Wolf verträgt das Land?“ wird von den Gegnern gestellt, nicht von denen, die einen Schutz des Wolfes wollen. Und unsere Administration will darauf Antworten – sprich: Zahlen.

Dettmann: Warum nicht einfach ehrlich bilanzieren, dass Dank der erfolgreichen Schutzbemühungen geradezu sensationelle Erfolge zu verzeichnen sind und der Wolf heute auch in Deutschland nicht mehr vom Aussterben bedroht ist? Warum nicht statt dem Märchen von der „deutsch-westpolnischen Population“ darlegen, dass wir es mit einem sich westwärts ausbreitenden Wolfsvorkommen zu tun haben, das in möglichst naher Zukunft wieder Anschluss an die Wolfsvorkommen in Südwest-Europa bekommen und sich zugleich geeignete Habitate im ursprünglichen Verbreitungsgebiet in Mitteleuropa erschließen soll?

Wolfsite: Einverstanden – aber dann müssen wir in der Diskussion endlich auch wegkommen von den mit Händen zu greifenden Bestrebungen, wieder Wölfe schießen zu dürfen, möglichst heute noch, bei gerade mal etwa 300 Tieren in Deutschland. Selbstverständlich ist eine Population dieser Größe noch weit entfernt davon, als „gesichert“ gelten zu können!

Dettmann: Mich ärgert dieses Festhalten an unhaltbaren Thesen, die einzig zum Ziel haben, ein Bedrohungsszenario am Leben zu halten, welches zum Glück längst Geschichte ist. Es zieht sich wie ein roter Faden durch alle Artenschutzkonflikte, dass Erfolge beim Schutz der betreffenden Arten kleingeredet und nicht nur die von damit einhergehenden Schäden betroffenen Menschen schlicht verschaukelt werden. Einzelne Naturschutzverbände gründen ihren wirtschaftlichen Erfolg zum Teil auf die ganz gezielte Polarisation und das Stigmatisieren einzelner Nutzergruppen. Beim Kormoran waren und sind Erwerbsfischer und Angler Mode. Beim Wolf wird munter gegen die Jägerschaft polemisiert. Mit dieser Masche beschädigt man die Akzeptanz von Artenschutzmaßnahmen an sich und das Konzept von Natura2000 im Ganzen. Das wissen und verstehen Sie ganz sicher auch ohne Nachhilfe von mir oder anderen Menschen. Und genau deshalb wurmt es mich ganz furchtbar, wenn ich Ihre Darstellungen im Interview mit dem DJV lese.

Wolfsite: Damit sind wir raus aus dem fachlichen und drin im politischen Bereich. Es mag einen „ganz furchtbar wurmen“ – aber leider ist es politischer (auch wolfspolitischer) Alltag, dass wir uns an einem Zahlenkram festkrallen, der die Komplexität natürlicher Vorgänge nur höchst unzureichend wiedergibt. Deshalb habe ich (UW) die Zahlen, die Lars Dettmann nun sauer aufstoßen, auch mit einigem Widerwillen genannt. Das sind Eckpfosten, an denen sich ein Management von Wildtieren entlang hangelt, weil wir Menschen, als Kinder eines technischen Zeitalters, ohne solche Zahlen ebenso wenig auskommen wie ohne rechte Winkel und runde Kreise. Ob sie ökologisch relevant sind, ob wir den Wölfen damit eine Zukunft sichern – das steht auf einem anderen Blatt. Kommende Generationen werden es zu beurteilen haben. Einen Schritt zurücktreten und die Rückkehr der Wölfe mit mehr Ruhe beurteilen würde der gesamten Diskussion sicher gut tun.

(Mitarbeit: Felix Knauer, Wien).