Wie viel Wolf verträgt das Land?

Wie viel Wolf verträgt das Land?

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18.09.2014

Früher oder später werden die Wölfe bejagt werden müssen. Das ist das Credo der Jäger, und so denken auch viele Menschen, die sonst mit der Jagd nichts am Hut haben. Die Population ist in eine exponentielle Wachstumskurve eingeschwenkt, wie das bei jeder Tierart beobachtet werden kann, die neue geeignete Lebensräume erobert. Anzunehmen ist, dass wir irgendwann, vielleicht schon bald, „genug“ Wölfe haben werden – die einen früher, die anderen später, und manche vielleicht nie, so wie auch für wiederum andere schon ein Wolf einer zu viel ist.

Gegenwärtig ist der Wolf nach dem Bundesnaturschutzgesetz streng geschützt und außer in Sachsen nicht im Jagdrecht enthalten. Eine Änderung wäre Sache des Bundes bzw. der Länder. Eine überzeugende Begründung dafür fehlte aber schon in Sachsen und ist auch sonst nicht erkennbar. Die Haltung der Jagdverbände in dieser Frage ist gespalten. In Sachsen lassen sich bisher nur Nachteile erkennen, nämlich doppelter bürokratischer Aufwand, weil sich gleich zwei Behörden (Naturschutz und Jagd) mit Wolfsvorgängen befassen.

Es geht steil aufwärts mit den Wölfen in Deutschland.

Abb. 1 Es geht steil aufwärts mit den Wölfen in Deutschland.

Welche Population?

Befürworter einer alsbaldigen Bejagung meinen, dass die deutsch-westpolnischen Wölfe lediglich ein Teil der baltischen Population seien und dass deshalb der von der EU geforderte „günstige Erhaltungszustand“ – 1.000 erwachsene Wölfe – längst erreicht sei. In der Tat ist durch eine genetische Studie nachgewiesen, dass „unsere“ Wölfe vom Baltikum stammen (Czarnomska et al. 2013). Die Autoren heben aber hervor, dass es sich bei unserer Zentraleuropäischen Flachlandpopulation – so ihr wissenschaftlicher Name – um eine eigenständige Population handelt, die sich genetisch eindeutig von der baltischen trennen lasse. Der Versuch, „unsere“ Wölfe als Teil der baltischen Population aufzufassen und damit – weil sich die baltische Population in einem günstigen Erhaltungszustand befindet – den strengen Schutzstatus zu lockern, ist also fachlich nicht gedeckt.

Eintausend erwachsene Wölfe

Die zentraleuropäische Flachlandpopulation umfasst gegenwärtig etwa sechzig Rudel, davon knapp die Hälfte in Deutschland, etwas mehr in Westpolen. Das Ziel 1.000 erwachsene Wölfe entspricht etwa 333 Rudeln mit jeweils zwei erwachsenen Tieren. Die anderen Erwachsenen sind Einzeltiere oder territoriale Paare. Wenn sich die Wölfe auch künftig etwa hälftig auf Deutschland und Westpolen verteilen, wäre der günstige Erhaltungszustand für diese Population mit etwa 166 Rudeln in Deutschland und ebenso vielen in Westpolen erreicht. Kann dann mit einer Bejagung begonnen werden.

Modellhafte Entwicklung der Wolfspopulation (rot) in Deutschland.

Modellhafte Entwicklung der Wolfspopulation (rot) in Deutschland.

 

Im EU-Recht findet sich dafür kein Anknüpfungspunkt. Der Wolf steht in Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie. Für Eingriffe in Populationen dieser Kategorie bedarf es „triftiger Gründe“, egal ob ein günstiger Erhaltungszustand gegeben ist oder nicht. Und selbst dann ist die ultima ratio nicht unbedingt die Jagd. Es gibt keinen Automatismus, nach dem eine Art allein deshalb bejagt werden kann, weil sie einen günstigen Erhaltungszustand erreicht hat.

Was wäre, wenn die EU den Wolf von Anhang IV in Anhang V herabstufte? Dort befindet sich beispielsweise das Gamswild. Aber auch die Bejagung von Anhang V-Arten darf den günstigen Erhaltungszustand nicht gefährden und ein Monitoring mit Berichtspflicht an die EU muss installiert sein. Beim Gamswild, das nachhaltig bejagt wird, sind diese Bedingungen gegeben. Sonst wäre die Gamsjagd ein Verstoß gegen EU-Recht.

Wölfe überall?

Bei Erreichen des günstigen Erhaltungszustandes gäbe es jeweils etwa 166 Rudel in Deutschland und in Westpolen. Nach dem polnischen Habitatmodell, das Felix Knauer auf Deutschland angewendet hat, könnte sich in Deutschland jedoch eine Population von etwa 440 Rudeln entwickeln. Die Zahl 440 ist in keiner Weise eine „Richtgröße“ des Bundesamtes für Naturschutz, wie das gelegentlich missverstanden wird, sondern es ist eine Modellaussage; nichts sonst. Es ist sozusagen die Sicht der Wölfe. Was spricht dagegen, es in Deutschland so weit kommen zu lassen? Es würde bedeuten, dass sich nicht nur im Osten und Norden, sondern in allen Bundesländern Wölfe befinden würden.

Darüber werden wir eine engagierte Auseinandersetzung zweier gegensätzlich orientierter Lager erleben: Nicht mehr Wölfe als naturschutzrechtlich nötig – oder so viel wie ökologisch möglich. Und im Verlauf dieser Auseinandersetzung wird die Frage, welche triftigen Gründe für eine Bejagung sprechen und ob es keine Alternative zur Jagd gibt, wirklich virulent.

Gründe für eine Bejagung

Im September 2013 hat sich in Postojna, Slowenien, eine international zusammengesetzte Arbeitsgruppe mit dem Für und Wider einer Wolfsbejagung befasst. Vier Begründungen ließen sich ausmachen: Jagd um ihrer selbst willen; Beschränkung bzw. Reduzierung der Verbreitung (wolfsfreie Gebiete); Absenkung der Wolfsdichte; und schließlich die Eliminierung von verhaltensauffälligen Wölfen.

Jagd um ihrer selbst willen, aus Freude am Jagen an sich, ist aus populationsökologischer Sicht scheinbar unbedenklich, weil dabei nur wenige Tiere erlegt werden. Voraussetzung ist eine Quotenregelung (Abschussplanung) auf verlässlicher Datenbasis. Eine solche Jagd kommt generell nur im Winter in Frage, wenn die Welpen bereits weitgehend selbständig sind. Dabei ist aber eine selektive Entnahme, wie sie für Arten im Anhang IV (und V) der FFH-Richtlinie vorgeschrieben ist, schwierig, weil sich Wölfe nach Alter, Geschlecht und Status nicht unterscheiden lassen. Beim Abschuss der Elterntiere ist eine Zerstörung der Rudelstruktur fast zwangsläufig die Folge. Einzig eine Selektion nach Regionen wäre denkbar. Eine Bejagung der Wölfe aus Freude an der Jagd an sich wird sich nur schwer durchsetzen lassen.

Ist Freude an der Jagd ein überzeugendes Argument zur Wolfsbejagung?

Abb. 3 Ist Freude an der Jagd ein überzeugendes Argument zur Wolfsbejagung?

Nutzerverbände wünschen sich Wolfsgebiete und wolfsfreie Gebiete. Wolfsfreie Gebiete machen aber nur in sehr großen Flächendimensionen Sinn, wie etwa in Schweden: Im Rentierweidegebiet werden Wölfe nicht geduldet – das sind etwa 40% des Landes. Wenn überhaupt, dann wäre in Deutschland am ehesten an den Alpenraum als wolfsfreies Gebiet zu denken, weil ein effektiver Schutz von Weidetieren dort besonders schwierig und kostspielig ist. Dann würden sich andere Alpenländer mit wesentlich mehr Schafhaltung dem Beispiel gleich anschließen, und im Handumdrehen wäre der gesamte Alpenraum eine No go Area für Wölfe. Wolfsfreie Gebiete lassen sich unter üblichen Verhältnissen in Mitteleuropa kaum begründen, nicht schaffen und auch nicht aufrechterhalten. Mit den Vorstellungen der EU sind sie nicht vereinbar.

Eine andere Forderung heißt Absenkung der Wolfsdichte, also der Anzahl Wölfe pro Flächeneinheit. Diese dient vorrangig jagdlichen Zielen; denn von weniger Wölfen verspricht man sich eine Entlastung des Schalenwildes und damit höhere Jagderträge. Allerdings besteht kein linearer Zusammenhang zwischen Wolfsdichte und Beutedichte. Kleine Rudel oder Einzeltiere nutzen ihre Beute oft nicht vollständig, und deshalb werden von einer reduzierten Zahl von Wölfen möglicher Weise nicht weniger Beutetiere gerissen als vorher. Die mit Bejagung fast zwangsläufig einher gehende Zerstörung von Rudelstrukturen mit der Aufgabe des Territoriums kann sogar zu einer vermehrten Zuwanderung von Einzelwölfen führen. Damit wäre nichts gewonnen.

Bei den gegenwärtigen Schalenwilddichten lässt sich die Forderung nach einer Dichtekontrolle von Wölfen nicht überzeugend begründen. Für den Schutz von Nutztieren verspricht eine Absenkung der Wolfsdichte ohnehin keine Vorteile; denn Nutztiere müssen auch bei geringer Wolfsdichte geschützt werden.

Schließlich zur Eliminierung von verhaltensauffälligen Wölfen (sog. „Problemwölfe“). Dies ist keine jagdliche Maßnahme, sondern muss speziell ausgebildeten Fachleuten übertragen werden. Alle Managementpläne der Bundesländer gehen auf dieses Thema gründlich und umfassend ein. Die Eliminierung solcher Tiere ist geregelt, es besteht kein Handlungsbedarf. Gutem Monitoring kommt hier eine besonders wichtige Rolle zu.

Zwei wichtige weitere Gesichtspunkte waren bei der Diskussion in Postojna immer präsent: Trägt eine Bejagung dazu bei bzw. ist sie sogar sinnvoll, um die Scheu der Wölfe zu erhalten und damit der Entwicklung verhaltensauffälliger Wölfe vorzubeugen? Und kann die Bejagung zu einer größeren Akzeptanz der Landbevölkerung, insbesondere der Jäger, beitragen und illegale Eingriffe vermindern? Für beide Annahmen finden sich bedenkenswerte Argumente, aber keine Belege. Dennoch verdienen sie Beachtung und eine gründliche Analyse. Hier besteht erheblicher Forschungsbedarf.

Müssen Wölfe bejagt werden?

Die Vorstellung, eine Population von größeren Wildtieren unkontrolliert sich selbst zu überlassen – zumal in der Kulturlandschaft von heute – ist den meisten von uns völlig fremd. Bei Pflanzenfressern fällt die Antwort leicht: es fehlen die natürlichen Antipoden, vor allem die Wölfe. Bei Wölfen entfällt dieses Argument; denn natürliche Feinde spielen bei der natürlichen Regulation dieser Art nirgends eine Rolle. Wölfe werden durch ihre Beute reguliert. Also: Müssen Wölfe überhaupt kontrolliert werden? Was haben wir zu erwarten, wenn wir der Entwicklung freien Lauf lassen und auf eine Bejagung verzichten?

Gegenwärtig wird die Entwicklung der Population hauptsächlich durch Verkehrsverluste, illegale Abschüsse, Krankheiten (Räude) und Abwanderung gebremst. Die Gesamtverluste liegen unter dem Zuwachs, deshalb steigt die Population an und breitet sich aus. Mit dem Vordringen in dichter besiedelte Gebiete der Bundesrepublik werden sowohl die Verkehrsverluste als auch die illegalen Abschüsse überproportional ansteigen, weil die Wölfe auf ein dichteres Straßennetz treffen und weil sie teure Pachtreviere mit geringerer Toleranz von Seiten der Jäger betreten. Einige Krankheiten werden zur Räude hinzukommen. Insgesamt ist es nicht nur vorstellbar, sondern eine unausweichliche ökologische Realität, dass Zuwachs und Verluste sich ausgleichen werden. Die Kurve wird abflachen. Die entscheidende Frage ist nur: auf welchem Niveau? Der Schlüssel dazu ist die Größe der Rudelterritorien. Wenn die Rudel an den bisherigen Territoriengrößen (um 250 km2) festhalten, wird sich keine Wolfsdichte einstellen, die uns große Sorgen machen muss.

Welche „anderen Maßnahmen“ als die Jagd sind denkbar? Im Yukon hat man in einem Experiment die Elterntiere von Wolfsrudeln (nachdem man die Welpen und halbwüchsigen erschossen hatte) sterilisiert und wieder frei gelassen. Sie brachten keinen Nachwuchs mehr zur Welt, verteidigten aber ihre Territorien erfolgreich gegen benachbarte Rudel. Auf diese Weise wurde die Wolfsdichte vorübergehend spürbar gesenkt, was die Karibus mit einer deutlichen Zunahme beantworteten (cit. Hayes 2012). Man kann auch über andere Maßnahmen nachdenken, etwa Fang und Töten der Welpen an der Wurfhöhle. Alle diese Dinge mögen einem nicht schmecken, aber es wäre blauäugig zu glauben, unsere zunehmend naturfern lebende Gesellschaft werde auch in Zukunft den Jäger als den Heilsbringer herbeirufen. Diese Zeit ist lange vorbei.

Ausblick

Kein Mensch vermag heute abzuschätzen, wie sich die Situation in unserem Land entwickelt, wenn die tauglichen Lebensräume einmal von Wölfen besetzt sind. Niemand weiß, ob die gegenwärtige Dynamik der Populationsentwicklung anhält, und ob meine Betrachtungen in wenigen Jahren nicht ganz anders geführt werden müssen, wenn sich nämlich die Alpenpopulation vom Süden her nach Deutschland ausbreitet und gar Kontakt zur zentraleuropäischen Flachlandpopulation findet. Sicher ist allerdings dies: Wölfe sind mit so viel Charisma beladen, dass jeder Ansatz, eine Bejagung zu eröffnen, auf erhebliche Widerstände in großen Teilen der Gesellschaft treffen wird. Deshalb kann es nicht schaden, die Diskussion über die Voraussetzungen dazu schon heute zu eröffnen.

Ich danke Felix Knauer für zahlreiche wertvolle Kommentare und Verbesserungsvorschläge zu diesem Text.

Quellen:
Czarnomska, Sylwia D., B. Jedrzejewska, T. Borowik, M. Niedziałkowska, A. V. Stronen, S. Nowak, R. W. Mysłajek, H. Okarma, M. Konopinski, M. Pilot, W.Smietana, R. Caniglia, E. Fabbri, E. Randi, C. Pertoldi, W. Jedrzejewski 2013: Concordant mitochondrial and microsatellite DNA structuring between Polish lowland and Carpathian Mountain wolves. Conservation Genetics.
Linnell J., V. Salvatori & L. Boitani (2008). Guidelines for population level management plans for large carnivores in Europe. A Large Carnivore Initiative for Europe. Report prepared for the European Commission (contract 070501/2005/424162/MAR/B2).
Hayes, Robert D. 2011: Wölfe im Yukon. Siehe www.woelfeimyukon.de