Übungsplätze sind Trittsteine für die Ausbreitung der Wölfe
08.04.2019
Seit dem Jahr 2000 beobachten wir ein erstaunliches Comeback der Wölfe in den stark fragmentierten Kulturlandschaften Deutschlands. Ein Forscherteam aus sieben Autoren, die meisten in enger Verbindung zum Institut Senckenberg, hat sich nun mit der Entwicklung der Wolfspopulation näher beschäftigt. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob Truppenübungsplätze (TÜP) und Schutzgebiete (SG) eine besondere Rolle bei der Bildung von Territorien spielen. Die Datenquelle bildete die Website DBB Wolf. Der Forschungsbericht – in Englisch – kann unter dem Link https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/conl.12635 nachgelesen werden. Es ist keine leichte Kost. Wolfsite versucht es hier mit einer leicht verständlichen Zusammenfassung.
Die Wissen-schaftler ermittelten zunächst die Wachs-tumsrate der Population, bezogen auf Rudel und territoriale Paare. Für den Zeitraum 2000 bis 2015 liegt sie bei jährlich 36%.
Sie rekonstruierten die räumliche Ausbreitung der Wölfe aus dem Datensatz des Monitorings. Eine „Ansiedlung“ lag vor, wenn ein Gebiet seit mindestens drei Jahren bis 2017 (Ende der Untersuchung) permanent von Wölfen besetzt war. Vorübergehende Ansiedlungen fielen damit durchs Raster. Besondere Konzentration galt den TÜP und den SG. Für jedes Bundesland wurde ferner das Dispersionsmuster der Gründertiere der ersten beiden dauerhaften Territorien kartografisch dargestellt. Die Herkunft dieser Tiere ist durch DNA-Analysen bekannt. Hier fanden die Wissenschaftler interessante Hinweise auf die Bedeutung der TÜP.
Es zeigte sich, dass die Ausbreitung der Population von ihrem Ausgangspunkt, dem TÜP Oberlausitz in Sachsen, sowohl in Form einer „Ausbreitungs-Front“ als auch nach dem Typ „Jump dispersal“ erfolgte. Unter Jump dispersal versteht man die sprunghafte Bildung neuer Kolonisationszentren in deutlicher Entfernung von der Mutterkolonie. Die Gründer neuer Kolonien „sprangen“ sozusagen über größere Entfernungen von ihrer Mutterkolonie auf einen „Trittstein,“ und diese Trittsteine waren vorzugsweise aktive TÜP – nicht aber SG, auch nicht andere, scheinbar gut geeignete große Waldgebiete o. dgl.
In jedem (!) Bundesland, in dem sich bis 2015 Wölfe dauerhaft ansiedelten, erfolgte die Bildung der ersten beiden Territorien immer auf TÜP. Dabei entfernten sich die Rudelgründer im Mittel 128 km von ihrem Elternterritorium. Nur halb so weit, 64 km, legten sie zurück, wenn sie sich in einem SG niederließen, und noch weniger (38 km) in einem „normalen“ Gebiet.
Warum zeigen Wölfe diese Vorliebe? An der Eignung der Gebiete scheint es nicht zu liegen. Die Habitatqualität der Territorien wurde in Anlehnung an das bewährte Modell von Jedrzejewski et al. (2008) anhand der beiden entscheidenden Variablen Waldanteil und Straßendichte miteinander verglichen. Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Kategorien TÜP und SG.
Werden Wölfe von den Umständen geprägt, die sie in früher Jugend an ihrem Wurfplatz erleben? Endet ihre Wanderschaft erst, wenn sie ein Gebiet gefunden haben, wo es so richtig knallt – eben wie auf einem TÜP? Das widerspräche der unbestrittenen großen Anpassungsfähigkeit von Wölfen. Belege dafür sind bisher nicht bekannt.
Oder haben Wölfe auf TÜP schlicht höhere Überlebenschancen? Die Analyse von 92 Todesfällen, die von 2000 bis 2015 dokumentiert sind und sich einem bekannten Territorium einschließlich einer 1 km Pufferzone zuordnen ließen, legt das nahe. Auf TÜP leben Wölfe sicherer:
Insgesamt wurden auf den TÜP (103 Territorienjahre = TJ) 17 tote Wölfe gefunden (16 pro 100 TJ), in den SG (42 TJ) 15 (36 pro 100 TJ), in den anderen Gebieten (142 TJ) 60 (42 pro 100 TJ). Dabei kamen auf TÜP 13, in SG 12, in anderen Gebieten jedoch 31 Wölfe pro 100 TJ im Verkehr ums Leben. Opfer illegaler Nachstellung waren 0 auf den TÜP, 14 in SG, 4 in anderen Gebieten – jeweils pro 100 TJ (siehe Tabelle).
Erkenntnisse und offene Fragen
Truppenübungsplätze waren offenbar für die Ausbreitung der Wölfe von großer Bedeutung. Sie bildeten Trittsteine für Populationskerne, von denen aus die Kolonisierung der noch wolfsfreien Räume weitab von den Ursprungsrudeln erfolgte.
Haben die abwandernden Wölfe also so etwas wie ein „Suchbild“, wo sie sich letztendlich niederlassen sollen? Eher nein. Der Schlüssel liegt im Risiko, ums Leben zu kommen, bevor man ein Rudel gebildet hat. In drei Sätzen zusammengefasst:
1 / Anthropogene Mortalität (Verkehrsunfälle und illegale Tötungen) war auf TÜP signifikant geringer als in anderen Gebieten.
2 / Die anthropogene Mortalität in SG unterschied sich nicht signifikant von der in anderen Gebieten.
3 / Illegale Tötungen von Wölfen waren in SG signifikant höher als auf TÜP.
Wie kann man sich also die Rolle der TÜP vorstellen? Vielleicht so: Manche abwandernden Wölfe finden in geringer Entfernung vom Elternrudel ein ihnen zusagendes Gebiet, werden dort sesshaft, finden einen Partner und bilden eine Familie. Andere wandern größere Strecken, finden ebenfalls ein zusagendes Gebiet – kommen aber um, bevor sie eine Familie gründen können, es sei denn, das Gebiet ist ein TÜP. Hier sind die Chancen zu überleben größer.
Es ist noch anzumerken, dass „Schutzgebiet“ nicht gleichbedeutend ist mit null Jagdaktivität. Selbst in den SG der strengsten Kategorie, den Nationalparken, wird Jagd ausgeübt, nicht selten sogar recht intensiv. Und anders herum gibt es große Gebiete, in denen einem Wolf mit Sicherheit kein Haar gekrümmt wird, z. B. in staatlichen Jagdrevieren – die wiederum, so wird eingewandt, „am Stück“ nur selten so groß sind wie ein durchschnittliches Rudelterritorium, nämlich 20.000 ha.
Die Autoren enthalten sich jeglicher Mutmaßungen hinsichtlich der Rolle der Jagd. Sie sehen allerdings im jagdlichen Management auf den TÜP – Großräumigkeit, straffe Organisation, wenig Ansitzjagd mit betriebsfremdem Personal – Vorteile für Wölfe. Dies dürfte unstrittig sein, es gilt generell für Arten mit großem Raumanspruch, z. B. auch für Rotwild. uw