Mythos Angstrudel

Mythos Angstrudel

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24.10.2014

Hier ist nicht die Rede von Wolfsrudeln. Es geht um Rotwildverbände, die sich angeblich zu großen „Angstrudeln“ zusammenrotten, wo Wölfe auftauchen. Auch Wildschweine sollen immer größere Rotten bilden. Tatsachenbefunde – oder bloß neue Mythen?

Wölfen wird alles Mögliche in die Schuhe geschoben. Wo immer sich ein Wolf erstmals zeigt, berichten Jäger umgehend von besonderer Nervosität, von Heimlichkeit und größeren Fluchtdistanzen, die sie beim Schalenwild bemerkt haben wollen. Bestimmte Revierteile, ja ganze Reviere würden plötzlich gemieden. In Wolfsgebieten, heißt es weiter, wage sich das Rotwild nicht mehr auf die Felder und bleibe stattdessen im Wald, wo es große Schälschäden anrichte. In einer Jagdzeitung war gar zu lesen, Rotwild lagere sich tagsüber in Form einer „Wagenburg“ – die Alttiere im äußeren Ring, die Kälber im Zentrum, damit die Muttertiere ihren Nachwuchs gegen angreifende Wölfe verteidigen können. Mit der Bildung von Großrudeln („Angstrudeln“) bzw. Großrotten suchten Rotwild und Wildschweine vor den Wölfen den Schutz in der Menge. Zu den vielen alltäglichen Problemen bei der Jagdausübung käme damit ein neues; denn in der Tat ist die Bejagung solcher Großverbände besonders schwierig. Und nicht zuletzt würden solche Großverbände natürlich besonders große Wildschäden verursachen.

Inzwischen gehören diese Ansichten zum festen Meinungsbild vieler Jäger, und von einigen Jagdzeitschriften wie auch Jagdfunktionären werden sie ungeprüft verbreitet. Aber welche Faktoren sind es, die das räumliche und soziale Verhalten von Rotwild und anderen sozial lebenden Pflanzenfressern bestimmen, und welche Rolle spielen dabei die Wölfe? Was ist durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt, was ist Stammtischgerede oder einfach nur nachgeplappert?

Schrecken aller Waldbesitzer: große Rotwildrudel. Was haben Wölfe damit zu tun? Foto Burkhard Stöcker.

Schrecken aller Waldbesitzer: große Rotwildrudel. Was haben Wölfe damit zu tun? Foto Burkhard Stöcker.

Rudelgröße – eine Frage des Nahrungsangebotes

Über eine Veränderung der Rudelgröße müsste man, dachte ich, im Mekka der Wolfsforschung etwas lernen können – im Nationalpark Yellowstone, USA. Seit ihrer Wiederansiedlung in den 1990er Jahren leben im Nordteil des Parks wieder rund hundert Wölfe, außerdem ein paar tausend Wapitis („Elk“ – der amerikanische Vertreter und nahe Verwandte unseres Rothirsches), neben einigen tausend Bisons. Ich fragte den Wildbiologen Dan Stahler, der seit 18 Jahren wissenschaftlich an der Beziehung Wolf – Wapiti (und an vielen anderen Fragen) arbeitet. Er meint, die Rudel seien unter dem Einfluss der Wölfe nicht größer, sondern im Gegenteil kleiner geworden. Genau das lese ich auch auf einer Informationstafel im berühmten Lamar-Tal.

Allerdings ist die Zahl der Wapitis in den letzten ca. dreißig Jahren von ca, 20.000 auf 4.000 zurückgegangen (aus welchen Gründen – darüber ein andermal). Ich fragte Dan, ob nicht allein durch die Abnahme der Dichte auch eine Verkleinerung der Rudel erfolgt sein könnte. „Kann sein!“ meinte er lakonisch. Genau untersucht ist das offenbar nicht – weder in Yellowstone noch anderswo.

Für die Rudelgröße von Pflanzenfressern ist der überragende Faktor die Verfügbarkeit von Nahrung. Bei geringem oder zerstreutem Nahrungsangebot – im Schatten des Waldes etwa – kann sich kein großer Verband bilden. Denn um satt zu werden, müssen sich die Tiere auf einer großen Fläche verteilen. So verlieren sie alsbald den Kontakt zueinander, das Rudel löst sich auf. Deshalb sehen wir große Rotwildrudel auf Raps- und Wintergetreideflächen oder auf Wiesen, also in offenen Habitaten mit viel Nahrung und guter Sicht, aber nicht im Wald. Auch die großen Rotwildverbände auf manchen militärischen Übungsplätzen, nicht selten über hundert Stück, sind so zu erklären (und damit, dass man hohe Wildbestände auf diesen Flächen toleriert). Große Rotwildrudel im Wald sind dagegen immer (!) ein Zeichen übermäßig hoher Wilddichte auf Grund unzureichender Bejagung.

Entspannt am hellichten Tag auf der Freifläche – kein ungewöhnlicher Anblick auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz, mitten im Wolfsgebiet. Foto Ilka Reinhardt.

Entspannt am hellichten Tag auf der Freifläche – kein ungewöhnlicher Anblick auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz, mitten im Wolfsgebiet. Foto Ilka Reinhardt.

Lehrreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das Rehwild. Rehe leben eigentlich solitär, aber in den riesigen Agrarflächen Polens, Ungarns und Ostdeutschlands können wir im Herbst und Winter Rehrudel von zwanzig, dreißig, ja über hundert Stück beobachten. Große Raps- oder Wintergetreideschläge bieten dort so viel attraktive Nahrung, dass es sich für den Einzelgänger Reh offenbar lohnt, sich in Großverbänden zusammenzuschließen. Im Wald kommen Rehrudel nicht vor. Wölfe spielen dabei keine Rolle.

Im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit bin ich wiederholt um Rat gefragt worden, wie mit Großrudeln jagdlich umgegangen werden sollte – lange vor Ankunft der Wölfe. Ich kenne Dutzende von solchen Fällen. So kann man zwischen München und Freising seit Jahrzehnten (!) auf einer großen Wiese unmittelbar neben dem Isar-Auwald ein Rudel von siebzig bis neunzig Stück beobachten, das sich dort im März/April bis gegen Mittag aufhält. Dabei geht die stark befahrene B 11 nur 300 m entfernt vorbei. In der Kolbitz-Letzlinger Heide zerbrach man sich vor zwanzig Jahren ebenfalls den Kopf darüber, wie man ein über vierzig Köpfe starkes Rudel bejagen sollte, das auf dem militärischen Übungsplatz seine Fährte zog – inzwischen hat sich ein Wolfsrudel dort eingefunden und man darf gespannt sein, wie sich die Situation entwickelt.
Fazit: Große Rotwildrudel sind ein natürliches Phänomen in offenen Habitaten und bei hoher Wilddichte – mit und ohne Wölfe.

Wagenburg bei Cerviden?

Bildet ein Rotwildrudel, wenn es sich lagert, eine „Wagenburg?“ Die Antwort darauf ist kurz; sie lautet nein. Eine Wagenburgformation kennt man von Moschusochsen und von Büffeln. Sie stellen sich gegen Angreifer aggressiv auf, aber sie haben ja Hörner und können sich aktiv zur Wehr setzen. Ein Rotwildrudel sucht sein Heil vor Wölfen in der Defensive, also in der Flucht. Zwar kann ein Alttier durchaus sein Kalb mit Vorderlaufschlägen gegen einen Angreifer verteidigen – die großen, starken Wapitikühe verjagen gelegentlich sogar einen Grizzly. Ein koordiniertes, aggressives Abwehrverhalten eines Rudels gibt es beim Rotwild jedoch nicht.

Räumliche Verschiebungen

Verlässt Rotwild – oder anderes Schalenwild – sein angestammtes Streif- oder Wohngebiet, wenn sich Wölfe ansiedeln? Mit anderen Worten: Werden Jagdreviere „wildleer“? Dieser Frage ist Mark Nitze von der TU Dresden nachgegangen. Er hat 24 Stück Rotwild mit Halsbandsendern ausgerüstet und ihr räumliches Verhalten untersucht.

Sein Fazit: Das räumliche Verhalten von Rotwild ist in Wolfsgebieten nicht anders als dort, wo Wölfe fehlen.
Mark konnte nicht untersuchen, wie Rotwild auf Wölfe unmittelbar reagiert, weil die Wölfe keinen Sender trugen und er daher nicht wissen konnte, ob etwa die räumliche Verschiebung eines Rudels durch eine Begegnung mit Wölfen ausgelöst worden war oder nicht. Man darf getrost annehmen, dass ein Rotwildrudel, wenn es von Wölfen angejagt wird, flüchtet und somit einen Ortswechsel vornimmt; das ist trivial. Offenbar kommt es aber nicht – wie gerne behauptet wird – zu einer dauerhaften Verschiebung eines Streifgebiets, zum Wechsel des Reviers oder gar zu weiträumigen Standortwechseln.

Fazit: Rotwild lässt sich durch Wölfe nicht dauerhaft aus seinem Streifgebiet vertreiben.
Vorstellbar ist allerdings, dass Rotwild bestimmte Gebiete meidet, wo die Wölfe im Vorteil sind. Dies ist der viel zitierte „Wolfseffekt“ im Nationalpark Yellowstone: Seit die Wölfe wieder zurück sind, wird in den ausgedehnten Tälern eine Erholung der vorher extrem stark verbissenen Weidenbüsche entlang der Flüsse und Bäche beobachtet. Erklärt wird dies damit, dass die Wapitis diese attraktiven Wintergebiete wegen der Wölfe meiden. Von anderen Wissenschaftlern wird diese Erkenntnis angezweifelt – auch dazu ein andermal.

Scheu

Spannende Begegnung, aber keine Spur von Aufgeregtheit – weder beim Hirsch noch beim Wolf. Copyright: S.Koerner@lupovision.de.

Spannende Begegnung, aber keine Spur von Aufgeregtheit – weder beim Hirsch noch beim Wolf. Copyright: S.Koerner@lupovision.de.

Wird Rotwild scheu – oder noch scheuer – wenn die Wölfe zurückkehren? Diese Frage ist besonders schwierig zu klären. Eine Bemerkung vorweg: Jeder wird mir zustimmen, dass unser Rotwild extrem scheu ist, obwohl Wölfe seit zweihundert Jahren fehlen. Dies ist ein Ergebnis des hohen Jagddrucks mit bis zu neun Monaten Jagdzeit, Jagd bis in die späten Abendstunden und sogar nachts, und mit fast allen Mitteln. Kann Rotwild überhaupt noch scheuer werden?

In unseren Wolfsgebieten ist die Klage über eine „vermehrte“ oder „vergrößerte“ Scheu des Wildes gang und gäbe. Ich zweifle ganz entschieden am Gehalt dieser Behauptungen: Zum Einen, weil es methodisch extrem schwierig ist, die Zu- oder Abnahme von Scheu festzustellen. Mir sind auch keine wissenschaftlichen Arbeiten dazu im Zusammenhang mit Wölfen bekannt. Umso schwieriger ist das für wissenschaftliche Laien, und das sind Jäger nun mal. Zum Zweiten: Ich frage mich nach dem evolutiven Anpassungswert. Welchen Vorteil soll Rotwild gegenüber Wölfen haben, wenn es später austritt, früher einzieht oder den Wald nicht verlässt? Keinen! Denn Wölfe haben kein Problem damit, Rotwild im dichten Wald zu finden (Jäger schon).

Ich würde sogar das Gegenteil erwarten: Dass sich das „Augentier“ Rotwild, das seine exzellent scharfen Sinne im Offenland (in der Steppe bzw. der Waldsteppe) entwickelt hat, wieder vermehrt auf offenen Flächen statt im dichten Wald aufhält (wo es sich dem Jäger mit Erfolg entzieht). Gewiss eine Gratwanderung, eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Vermeidung der tierischen wie der menschlichen Jäger. Kein leichtes Leben für die überaus sensiblen Tiere – aber das könnten wir ihnen erleichtern, würden wir uns endlich an die handwerklichen Grundregeln halten, die für eine anständige Rotwildbejagung gelten. Dies ist freilich ein anderes Thema.