Wölfe in der Nähe zu Menschen

Wölfe in der Nähe zu Menschen

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20.04.2017

Kurzfassung einer ersten Umfrage durch KORA (Bericht Nr. 76. Jacqueline Huber, Manuela von Arx, Roland Bürki, Ralph Manz, Urs Breitenmoser).

Im berühmten Calanda-Rudel in Graubünden, dem ersten Wolfsrudel in der Schweiz in neuerer Zeit, wurden auffällige Verhaltensänderungen beobachtet: Wölfe wurden immer häufiger am helllichten Tag gesehen. Sie näherten sich Menschen, gingen an ihnen vorbei oder blieben in ihrer Nähe. Wölfe hielten sich am Dorfrand in der Nähe von Scheunen und Ställen auf, und sogar im Dorf Vättis. Es kam zu öffentlichen Debatten darüber, ob die Wölfe „zunehmend zahm“ geworden waren, und ob daraus Gefahren für Menschen resultierten. Schließlich wurde vom Amt für Jagd und Fischerei verfügt, dass zwei Jungwölfe geschossen werden sollten, wenn sich das Rudel einer Siedlung näherte bzw. in eine solche hinein kam. Zu einem Abschuss kam es jedoch nicht.

Das Calandarudel, am Morgen des 22. Dezember 2012 auf dem Heimweg, im Hintergrund das Indust-riegebiet und Teile des Dorfes Untervaz bei Chur (Foto: Stefan Geissmann).

Das Calandarudel, am Morgen des 22. Dezember 2012 auf dem Heimweg, im Hintergrund das Industriegebiet und Teile des Dorfes Untervaz bei Chur (Foto: Stefan Geissmann).

KORA startete daraufhin eine Befragung der Mitglieder der Large Carnivore Initiative for Europe (LCIE), ob in deren Heimatländern ähnliche Verhaltensweisen bekannt seien. Alle 31 befragten Ländervertreter nahmen an der Umfrage teil, in allen außer Luxemburg, Belgien und den Niederlanden sind residente Wolfsrudel bestätigt.

Alle 28 Länder mit residenten Wölfen berichteten von zumindest einzelnen Rudeln, deren Territorium sich in der Nähe von Siedlungen befindet oder diese sogar einschließt, und dass sich Wölfe wiederholt Gebäuden näherten. In 14 Ländern haben sich Wölfe wiederholt auch Menschen genähert. Dabei handelte es sich um Ausnahmefälle bzw. die Berichte konnten nicht unabhängig verifiziert werden. In zwölf Ländern kam es zu Aggressionen von Wölfen gegenüber Menschen. Die überragende Mehrheit davon handelte von tollwütigen Wölfen oder von Selbstverteidigung. Nur aus Spanien sind unprovozierte Angriffe auf Menschen bekannt geworden, der letzte aus dem Jahr 1975. In keinem der Fälle von Aggression wurde von vorhergehenden wiederholten Annäherungen von Wölfen an Menschen oder Gebäude berichtet.

In Portugal befinden sich Siedlungen in jedem Rudelterritorium, und manche Wurfhöhlen, seit über 30 Jahren bekannt, sind weniger als 3 km entfernt vom nächsten Dorf. Annäherungen junger Wölfe an Menschen kommen immer wieder vor, auch in der Ukraine, wo Wölfe bejagt werden. In Spanien dagegen, unter ganz ähnlichen Bedingungen, flüchten Wölfe bei der Begegnung mit Menschen sofort. In Weißrussland und der Slowakei, wo Wölfe im Winter bejagt werden, kommt es nur selten zu Annäherungen an Menschen, aber Siedlungen werden häufig aufgesucht. In Bulgarien – Bejagung während des ganzen Jahres – kommen Wölfe ebenfalls in Dörfer oder in deren Nähe, aber offenbar fürchten sie den Menschen. In Schweden haben sich einzelne Wölfe wiederholt Menschen unter verschiedenen Umständen bis auf etwa 30 m genähert. Die Vergrämung hat nur selten Erfolg, weshalb solche Wölfe zunehmend entnommen (getötet) werden. Dabei wird zugestanden, dass es sich um ein durchaus natürliches, sogar ungefährliches Verhalten der Wölfe handelt – doch wird der Beruhigung der Bevölkerung, in deren Nähe solche Wölfe auftreten, Vorrang eingeräumt.

Die Umfrage zeigt, dass die Diskussion ohne eine klare Definition der Begriffe vom Verhalten sehr schwierig ist und viel Spielraum für unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Viele Beobachtungen von „dreisten“ Wölfen wurden in den lokalen Medien berichtet, was eine standardisierte und objektive Beurteilung der Vorkommnisse stark erschwert. Die Autoren schlagen vor, die Untersuchungen zur Habituierung und den internationalen Austausch von Erfahrungen darüber zu intensivieren. uw